PhilosophieTag | Theorie und Experiment im naturwissenschaftlichen Denken – die besondere Rolle der Physik
18.11.2021, 19:30 - 21:00
Theorie und Experiment im naturwissenschaftlichen Denken
Die besondere Rolle der Physik
Vortrag von Dr. Rudolf Kötter
Nach einer unter Naturwissenschaftlern weit verbreiteten Vorstellung stehen am Anfang der Forschungsarbeit in den Naturwissenschaften Beobachtungen von Einzelfällen, die sich entweder »in der Natur« ereignen oder im Labor experimentell erzeugt werden. Diese Beobachtungen gelten als elementar, weil sie streng mit sinnlichen Wahrnehmungen korrelieren und werden im einfachsten Fall in Listen festgehalten, welche die beobachteten Merkmale in ihren qualitativen und/oder quantitativen Ausprägungen (Messdaten) enthalten. Solche Protokolle über das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen von Merkmalen und Merkmalsausprägungen lassen sich nun mittels statistischer Verfahren verbinden und verdichten: so kann man Häufigkeit und Streuung von Werten einer Größe ermitteln, Korrelationen zwischen verschiedenen Merkmalsausprägungen herstellen oder Wertverläufe in einer Zeitreihe darstellen. Die statistische Aufbereitung des Datenmaterials ermöglicht es, bestimmte Abweichungen oder Einflussgrößen in kontrollierter Weise für vernachlässigbar (»nicht signifikant«) zu erklären. Dadurch erhält man dann eine möglichst einfache Beziehung und durch deren Generalisierung ein so genanntes »Gesetz«.
Hat man einmal aus einer Reihe von Untersuchungen ein solches Gesetz gewonnen, dann kann man darunter neue, der Art nach einschlägige Fälle subsumieren, welche dadurch in den Bereich des schon Bekannten eingegliedert werden. Die Beobachtung wird »zum Fall« des Gesetzes und gilt damit in einem schlichten Sinne als »erklärt«. Man spricht davon, dass man auf induktivem Wege ein Gesetz gewinnt, welches man dann deduktiv anwendet.
Diese Sichtweise hat ihren Niederschlag in vielen Schulbüchern, aber auch in renommierten Lehrbüchern gefunden, als typisch können die Ausführungen von Wolfgang Demtröder in seinem bekannten Lehrbuch der Experimentalphysik gelten: »Das Experiment ist eine gezielte Frage an die Natur, auf die bei geeigneter experimenteller Anordnung eine eindeutige Antwort erhalten werden kann. Ziel aller Experimente ist es, Gesetzmäßigkeiten aufzufinden, die die Fülle der Beobachtungen in einen größeren, überschaubaren Zusammenhang bringen. Der Sinn eines so gefundenen Gesetzes ist aber nicht nur die Zusammenfassung vieler Einzelergebnisse, sondern vor allem die Möglichkeit, physikalische Vorgänge quantitativ vorauszusagen.« (W. Demtröder: Experimentalphysik 1, Mechanik und Wärme. 8. Auflage Berlin 2018, S. 2).
Mit diesem Bild vom induktiven Aufbau der Naturwissenschaften verbinden sich bei näherem Hinsehen einige interessante Probleme:
1. Offensichtlich sollte es zu jedem Gesetz zwei Sorten von Experimenten geben: solche, die der Gewinnung von Gesetzen dienen und solche, durch die sie überprüft werden. Die Wissenschaft kennt zwar diese Unterscheidung, allerdings sind die beiden Typen in der Praxis nicht gleichgewichtig vertreten.
2. Ein Experiment ist immer eine technische Einrichtung. Wie kann man aber eine solche planen und bauen, wenn man nicht weiß, ja gar nicht wissen darf, welchen Effekt sie produzieren soll?
3. Verlauf und Ergebnis eines Experiments sollen beobachtet und protokolliert werden. Worauf hat man dabei aber zu achten (d.h. was ist wichtig, was unwichtig) und in welcher Sprache soll das Beobachtete protokolliert werden?
Im Vortrag soll gezeigt werden, dass das geläufige Bild vom induktiven Vorgehen in den Naturwissenschaften (Beobachtung – Verallgemeinerung – Naturgesetz) eine Verzerrung naturwissenschaftlicher Arbeitsweise darstellt, da hier die Rolle der Theoriebildung keine angemessene Berücksichtigung findet. Damit wird aber auch das Verständnis von der Leistungsfähigkeit der Naturwissenschaften erheblich erschwert, was auch negative Konsequenzen für die didaktische Vermittlung naturwissenschaftlicher Inhalte hat.
Hinweis: Es gilt 2G (nur Geimpfte und Genesene haben Zutritt).