TdS Tagung 2008* | Der Mensch zwischen Natur und Kultur – Von der Evolutionsbiologie zum Humanismus
21.06.2008, 16:30 - 17:15
Der Mensch zwischen Natur und Kultur
Von der Evolutionsbiologie zum Humanismus
Vortrag von Prof. Dr. Josef H. Reichholf
Die Menschen waren den weitaus größten Teil ihrer biologischen Existenzzeit von 150.000 bis 180.000 Jahren mehr oder weniger nomadisch umherstreifende Jäger und Sammler. Unser Verhalten ist davon geprägt, denn erst in jüngster Vergangenheit, vor weniger als 10.000 Jahren, kam es mit der Entwicklung des Ackerbaus zu Sesshaftigkeit und zur Ausbildung großer, komplexer Gemeinschaften. Der grundlegende Wechsel im Lebensstil erforderte entsprechende Veränderungen in den Sozialstrukturen und -regeln. Diese wurden den jeweiligen Verhältnissen angepasst und nicht automatisch verallgemeinert. Das größte Hindernis bildete dabei die relativ starke Geschlossenheit der frühen Gesellschaften. Sie grenzten sich gegen »die Anderen« ab. Das wirkungsvollste Mittel hierzu wurde die Sprache, die über Dialekte und Sprachen stärker ausgrenzt als die »biologischen« Eigenschaften und die Eigenheiten der verschiedenen Kulturkreise. Inhumanes Verhalten wurde erst durch die Kultur möglich. Es stellt ihre Schattenseite dar, weil sie künstlich Unterschiede aufbaut und pflegt, die von Natur aus nicht vorhanden sind. Insofern liegt dem Darwin’schen »survival of the fittest« in seiner Verbrämung im Sozialdarwinismus ein doppeltes Missverständnis zugrunde. Denn die momentane Überlegenheit ist längst nicht mehr »biologisch«, sondern nahezu vollständig kulturell begründet. Sie stellt damit weder eine Naturgesetzlichkeit, noch eine Normvorgabe der Natur dar.
Aus der Überlagerung unserer ersten, der biologischen Natur mit der zweiten, der Kultur, sind all die Probleme der Ungleichheit und Unmenschlichkeit hervorgegangen, die es zu bekämpfen gilt. Als Mittel zum Zweck diente von Anfang an die Sprache. Der Humanismus muss sich daher nicht mit der Natur des Menschen auseinandersetzen, um diese zu humanisieren, sondern mit den Ideologien, die Sprache und Denken erzeugt haben. In der Natur des Menschen findet der Humanismus ein verlässliches und bewährtes Fundament.
*Veranstaltungen (1996–2015) im Rahmen des »Turm der Sinne« sind vor Gründung von Kortizes abgehalten worden; jedoch mit maßgeblicher Arbeit des heutigen Kortizes-Teams. Die Auflistung hier erfolgt nur aus archivtechnischen Gründen.