
Symposium 2025 | Das wandelbare »Selbst« – Identität in digitalen Zeiten
03.10.2025, 19:15 - 21:00
Das wandelbare »Selbst«
Identität in digitalen Zeiten
Vortrag von Prof. Dr. Joachim Bauer
Das »Selbst« des Menschen, das den Kern seiner/ihrer Identität bildet, ist keine nach außen abgeschottete Konstruktion, sondern durchlässig. Es zeigt Merkmale der Stabilität und der Wandelbarkeit. Letztere verdankt es seiner Entstehungsgeschichte. Die neuronalen Korrelate eines wissenden »Selbst«, die sogenannten Selbst-Netzwerke (»Self Networks«), sind bei Geburt des Menschen noch nicht ausgebildet. Daher haben Neugeborene zwar ein reiches Gefühlsleben, aber noch kein »Selbst«. Dessen Anfänge erwerben sie im Rahmen dyadischer, spiegelnder, resonanter Interaktionen mit Bezugspersonen. Sie lassen den Säugling nicht nur spüren, dass er ist, sondern geben ihm eine erste Ahnung davon, wer er ist – vor allem mit Blick darauf, ob er ein auf dieser Welt willkommenes Wesen ist. Resonanzen, die Säuglinge auf ihre kreatürlichen Lebensäußerungen zurückerhalten, fließen in die Fundamente der Selbstentstehung ein. Bereits Friedrich Nietzsche (»Das Du ist älter als das Ich«) und Martin Buber (»Der Mensch wird am Du zum Ich«) haben das erkannt (Überblick bei Joachim Bauer: »Wie wir werden wer wir sind«, Heyne TB).
Der Mensch wirkt, sobald er seines »Selbst« gewahr wird, an dessen Entwicklung und damit an seiner Identität lebenslang mit. Wir bleiben aber durchlässig. Verschiedene neurobiologische Merkmale (die den Begriff des »Social Brain« entstehen ließen) weisen den Menschen nicht nur als ein in seiner Identität in hohem Maße von sozialen Rückmeldungen abhängiges, sondern als ein nach Resonanz geradezu »süchtiges« Wesen aus. Resonanzen, die wir als Kinder, Jugendliche und später als Erwachsene erhalten, können mit Introjektbildungen und Identifikationen einhergehen und an der ständigen Weiterentwicklung des Selbst bzw. der eigenen Identität mitwirken. Neurobiologische Untersuchungen bestätigen die Co-Existenz einer persönlichen und sozialen Identität. Ich, signifikante Andere und das Wir (i.S. sozialer Zugehörigkeit) sind in den Selbst-Netzwerken überlappend repräsentiert. Menschen besitzen i.d.R. nicht nur eine, sondern mehrere soziale Identitäten, die in entsprechenden sozialen Situationen mental aktualisiert und aktiviert werden (Übersicht bei Joachim Bauer: »Fühlen was die Welt fühlt«, Heyne TB, S. 33ff, S. 101ff.).
Digitale Angebote entfalten ihre ubiquitäre Wirkmacht auf Nutzerinnen und Nutzer auf der Basis der menschlichen Sehnsucht nach sozialer Resonanz. Smartphones, Social Media, Videospiele und Chatbots versprechen dem modernen, von Vereinsamung bedrohten Menschen nicht nur Bedeutung und vergewissern ihn seiner Existenz. Die aus den Sozialen Netzwerken, Videospielen und vom Chatbot kommenden Rückmeldungen sind Resonanzen, die das Denken, Fühlen und damit auch die Identität der Nutzerinnen und Nutzer beeinflussen und formen. Je intensiver wir Endgeräte (i.d.R. das Smartphone) und ihre Applikationen benutzen, desto stärker verlagert sich unser Selbst (und mit ihm unsere Identität) in die virtuellen Räume, auch wenn (oder gerade weil) uns das nicht bewusst wird (Übersicht bei Joachim Bauer: »Realitätsverlust«, Heyne HC). Die wandelbare wird so zur zersplitterten, inkonsistenten Identität. Nur wenn ein Mensch genügend Momente des Innehaltens und der Muße findet, um »bei sich« zu sein, kann er/sie den Aspekt seiner/ihrer inneren Kohärenz, Kontinuität und individuellen Identität stärken.
