Gesichtserkennung – Warum wir glauben Menschen an Gesichtern erkennen zu können, im Alltag aber daran kläglich scheitern
05.04.2011, 19:30 - 21:00
*Veranstaltungen (1996–2015) im Rahmen des »Turm der Sinne« sind vor Gründung von Kortizes abgehalten worden; jedoch mit maßgeblicher Arbeit des heutigen Kortizes-Teams. Die Auflistung hier erfolgt nur aus archivtechnischen Gründen.
TdS Vortragsreihe »Von Sinnen« 2011*
Gesichtserkennung
Warum wir glauben Menschen an Gesichtern erkennen zu können, im Alltag aber daran kläglich scheitern
Vortrag von Prof. Dr. Claus C. Carbon
Menschen besitzen außergewöhnliche Fähigkeiten im Bereich der Gesichtsverarbeitung. Vor allem beim Konstatieren von Gesichtsausdrücken, beim Zuschreiben des Geschlechts und des Alters, und der Attraktivität von Gesichtern können Menschen als Experten bezeichnet werden. Die Evidenzlage für die expertenhafte Erkennung von persönlich nicht-bekannten Gesichtern ist jedoch eher dünn. Viele vermeintlich hohe Leistungen kommen durch artifizielle Testprozeduren oder durch artifizielle Antwortstrategien zustande. Durch Verwendung alternativer Testszenarien kann demonstriert werden, dass Gesichter von berühmten Persönlichkeiten (Stars, Politiker, Künstler), die zwar oft gesehen, aber nicht persönlich bekannt sind, kaum erkannt werden können, wenn die bekannt gewordenen Abbildungen manipuliert oder durch weniger bekannte Bildmaterialien ersetzt werden. Es wird geschlossen, dass nicht-persönlich vertraute Gesichter eher piktoral oder »ikonisch«, persönlich vertraute Gesichter dagegen in der Tat strukturell, ganzheitlich und expertise-basiert verarbeitet werden. Beispiele für widerstreitende Erkennungsleistungen werden anhand von Beispielen illustriert und Gründe für die Fehlannahme genereller expertise-basierter Gesichtsverarbeitung werden diskutiert. Zusätzlich wird über einen Spezialfall mangelnder Gesichtserkennung gesprochen, der sogenannten angeborenen »Prosopagnosie«, einer kognitiven Störung, die im Volksmund als »Gesichtsblindheit« bekannt ist. Anhand dieses Phänomens lassen sich erweiterte Schlüsse auf das normale Verarbeiten von Gesichtern ziehen. Zudem eröffnet der Vortrag die Möglichkeit, einmal eine der faszinierendsten kognitiven Leistungen des Menschen zu reflektieren und zu erkennen, wie schwierig und fragil die Verarbeitung von Gesichtern unter bestimmten Bedingungen sein kann.
Doch wie sieht das generell bei Wachkomapatienten aus? Besonders schwer wiegt die Frage, ob die Patienten Schmerz und Leid empfinden können. In einer eigenen Studie entwickelten wir hierfür Tests, die auch nichtsprachliche Gedanken und Leidensfähigkeit messen und die in mehreren Schritten immer tiefere Bewusstseinsschichten erfassen. Untersucht wurde die neuronale Hirnaktivität per funktioneller Magnetresonanztomographie bei 21 Wachkomapatienten. Die Ergebnisse zeigten, dass viele Wachkomapatienten (11 von 21) Schmerz und Leid empfinden. Weniger häufig konnte höheres reflexives Bewusstsein, wie mentale Vorstellungsfähigkeit (3 von 21) oder Sprachverständnis (3 von 17) nachgewiesen werden. Die Ergebnisse sind besonders bedeutsam im Hinblick auf die Sterbehilfediskussion.