TdS Tagung 2009* | Die ehrenrührige »Affenfrage« – Eine paläoanthropologisch-primatologische Bilanz
21.05.2009, 09:00 - 09:45
Die ehrenrührige »Affenfrage«
Eine paläoanthropologisch-primatologische Bilanz
Vortrag von Prof. Dr. Winfried Henke
Charles Robert Darwin (1809–1882) hat die Biologie durch sein Werk auf eine neue Basis gestellt und durch dessen wissenschaftliche und weltanschauliche Ausstrahlung unser Selbstverständnis nachhaltiger geprägt als irgendein anderer Wissenschaftler. Der durch die Darwinsche Deszendenz- und Selektionstheorie ausgelöste Paradigmenwechsel begründete eine evolutionäre Anthropologie, die zum Ziel hat, den Prozess der Menschwerdung als adaptive Entwicklung in der Primaten-Evolution zu verstehen.
Das Referat verfolgt zwei unterschiedliche Ansätze zur Standortbestimmung des Natur- und Kulturwesens Mensch: einerseits durch den Vergleich des Menschen mit dem weiten Spektrum rezenter Primaten; die empirische Untersuchung der evolutiven Anpassungen lebender Primaten lässt den ehemals angenommenen Hiatus zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Primaten zunehmend geringer erscheinen und belegt ein Entwicklungskontinuum. Phylogenetische Entwicklungstrends verdeutlichen, dass der Hominisationsprozess und speziell der Weg von der Natur in die Kultur (von der Bio- zur Tradigenese) unter gleichartigen biologischen Prinzipien erfolgte, jedoch mit einer innerhalb der Primaten einzigartigen Dynamik abgelaufen ist; andererseits durch die Analyse und Interpretation von Homininen-Fossilien. Dadurch gelingt es, den Menschwerdungsprozess in seinem raum-zeitlichen Gefüge modellhaft zu rekonstruieren und die ökologische Nische unserer Gattung zu kennzeichnen.
Beide Forschungsansätze, der vergleichend-primatologische und der paläoanthropologische, geben dichte Hinweise auf die einmaligen Bedingungen und Konstellationen für die Hominisation und beginnen die herkömmliche Natur-Kultur-Antinomie zunehmend aufzulösen, oder um es mit den Worten des Primatologen Franz de Waal zu formulieren: Affen werden immer kulturaler, der Mensch immer tierlicher. Ein wesentlicher Unterschied bleibt jedoch: Nur wir tragen Verantwortung und diese bleibt uns als Verpflichtung.
*Veranstaltungen (1996–2015) im Rahmen des »Turm der Sinne« sind vor Gründung von Kortizes abgehalten worden; jedoch mit maßgeblicher Arbeit des heutigen Kortizes-Teams. Die Auflistung hier erfolgt nur aus archivtechnischen Gründen.