Mein motorischer Zombie und ich – Neuronale Pfade der Wahrnehmung
07.05.2013, 19:30 - 21:00
*Veranstaltungen (1996–2015) im Rahmen des »Turm der Sinne« sind vor Gründung von Kortizes abgehalten worden; jedoch mit maßgeblicher Arbeit des heutigen Kortizes-Teams. Die Auflistung hier erfolgt nur aus archivtechnischen Gründen.
TdS Vortragsreihe »Von Sinnen« 2013*
Mein motorischer Zombie und ich
Neuronale Pfade der Wahrnehmung
Vortrag von Prof. Dr. Volker Franz
Viele Jahrhunderte lang nahmen Naturphilosophie und Wissenschaft an, dass Menschen beim Betrachten der Umwelt ein einheitliches und kohärentes inneres Abbild der Welt generieren und dieses Abbild verwenden, um ihre Interaktion mit der Welt zu planen. Auch im Alltag gehen wir selbstverständlich von dieser Annahme eines einheitlichen geistigen Modells der Umwelt aus, das unserer Wahrnehmung und unseren Handlungen zugrunde liegt. So erwarten wir zum Beispiel, dass wir ein Objekt nur dann greifen können, wenn wir uns des Objekts auch bewusst sind.
Umso erstaunlicher ist es, dass die modernen Neurowissenschaften immer wieder Fälle beschreiben, die in unerwarteter Weise von dieser Annahme abweichen. So kann zum Beispiel die berühmte neurologische Patientin »DF« aufgrund einer Hirnschädigung nicht mehr die Größe von Objekten einschätzen. Soll sie jedoch nach denselben Objekten greifen, dann kann sie ihre motorische Bewegung sehr wohl an die Größe des Objekts anpassen. Ihre bewusste Wahrnehmung hat also keinen Zugriff mehr auf die Information über die Objektgröße, während ihr motorisches System diese Information weiterhin im Greifen verwenden kann. Ihr motorisches System scheint also mehr Information über die Welt zu haben als ihre bewusste Wahrnehmung.
Aufgrund derartiger spektakulärer Befunde schlugen die britischen und kanadischen Neurowissenschaftler David Milner und Melvyn Goodale schon 1992 vor, dass es zwei getrennte neuronale Verarbeitungspfade in unserem Gehirn gibt. Der eine Verarbeitungspfad soll die visuelle Information der Augen für die bewusste Wahrnehmung aufarbeiten und der andere Pfad für die Ansteuerung der Motorik. Der motorische Pfad ist demnach unbewusst und stellt so etwas wie einen »motorischen Zombie« in unserem Gehirn dar – ein anschaulicher Begriff, den der indisch-amerikanische Neurologe Vilayanur Ramachandran für den motorischen Pfad prägte. Der »motorische Zombie« erhält nach dieser Auffassung lediglich eine grobe Instruktion über die Aufgaben, die er durchführen soll (z.B. »Greife die Flasche auf dem Tisch«) und erarbeitet dann weitgehend autonom und unbewusst die Details der Aufgabe (z.B. »Wie weit muss ich meine Hand bewegen, um die Flasche zu erreichen?«). Hierbei soll der »motorische Zombie« auf Aspekte der visuellen Information aus den Augen zugreifen, die nur ihm, nicht aber dem Bewusstsein zur Verfügung steht.
Wenn es nun eine derartig fundamentale Trennung der Verarbeitung für bewusste Wahrnehmung und motorische Handlungen in unserem Gehirn gibt, dann sollte sich dies auch bei gesunden Menschen nachweisen lassen. Und in der Tat fand man, dass bestimmte optische Täuschungen nur unsere bewusste Wahrnehmung täuschen, nicht jedoch motorische Handlungen. Damit wäre gezeigt, dass motorische Handlungen andere und genauere visuelle Informationen zur Verfügung haben als unsere bewusste Wahrnehmung – so dass der Begriff »motorischer Zombie« auch bei gesunden Menschen eine Berechtigung hätte. Damit wäre die Theorie der zwei getrennten Verarbeitungspfade von Milner und Goodale auch bei gesunden Probanden in überzeugender Weise bestätigt.
Der Referent gibt einen Überblick über den Themenbereich und zeigt dabei u.a., wie seine und andere Forschungsgruppen in den letzten zehn Jahren die Theorie der zwei getrennten Verarbeitungspfade und des »motorischen Zombies« geprüft haben und – trotz zunächst scheinbar überwältigender Evidenz für die Theorie – zu einer anderen, sehr viel skeptischeren Auffassung gekommen sind. Dies zeigt beispielhaft, wie der Erkenntnisprozess in der Wissenschaft funktioniert und wie wir auch in der Wissenschaft immer wieder die Erfahrung machen, dass wir uns täuschen können.