Symposium TdS 2015* | Des Kaisers neue Kleider? Das Menschenbild der Neurowissenschaften und die Ethik
10.10.2015, 11:45 - 12:30
*Veranstaltungen (1996–2015) im Rahmen des »Turm der Sinne« sind vor Gründung von Kortizes abgehalten worden; jedoch mit maßgeblicher Arbeit des heutigen Kortizes-Teams. Die Auflistung hier erfolgt nur aus archivtechnischen Gründen.
Des Kaisers neue Kleider?
Das Menschenbild der Neurowissenschaften und die Ethik
Vortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Birnbacher
Haben die in den letzten Jahren in den Neurowissenschaften erreichten Fortschritte das Potenzial, unser »Menschenbild« zu verändern oder gar zu revolutionieren? Für eine vorsichtige Einschätzung spricht, dass die neuen Erkenntnisse zum großen Teil lediglich ältere Einsichten der Psychologie bestätigen. Das gilt auch für die alte Streitfrage nach der Willensfreiheit, hinsichtlich derer die Neurowissenschaften eher für Verwirrung als für Klärung gesorgt haben. Auf der anderen Seite haben die neuen Erkenntnisse aber durchaus auch Konsequenzen für das Bild vom Menschen, nämlich indem sie die Annahme stützen, dass alle Bewusstseinsphänomene letztlich auf Gehirnphänomene zurückgehen. Diese Annahme ist keineswegs neu – sie gehört zu den Kernannahmen aller Formen eines materialistischen Menschenbilds –, ist aber gerade deshalb umstritten. Zentrale Fragen der Anthropologie entziehen sich allerdings weiterhin einer wissenschaftlichen Klärung, allen voran die Frage nach der Entstehung und der möglichen Funktion des Bewusstseins. Auch die bislang erfolgsreichste Erklärungsstrategie, die evolutionäre, kann lediglich erklären, warum das Bewusstsein erhalten geblieben ist, nachdem es einmal entstanden war, aber nicht, wie es zu diesem kategorialen »Sprung« allererst gekommen ist.