Wer sieht die Welt: der Mensch oder sein Gehirn? Ein Blick auf unser Denkorgan aus der Sicht der »Zwei Kulturen«
19.04.2011, 19:30 - 21:00
*Veranstaltungen (1996–2015) im Rahmen des »Turm der Sinne« sind vor Gründung von Kortizes abgehalten worden; jedoch mit maßgeblicher Arbeit des heutigen Kortizes-Teams. Die Auflistung hier erfolgt nur aus archivtechnischen Gründen.
TdS Vortragsreihe »Von Sinnen« 2011*
Wer sieht die Welt: der Mensch oder sein Gehirn?
Ein Blick auf unser Denkorgan aus der Sicht der »Zwei Kulturen«
Vortrag von Prof. Dr. Kuno Kirschfeld
Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts wurden viele Rätsel des Gehirns gelöst: wie Signale durch Nervenzellen geleitet werden, wie Nervenzellen interagieren, welche chemischen Substanzen daran beteiligt sind, welche Gehirnbereiche bei bestimmten Aktivitäten und Denkprozessen aktiv sind. Alle diese Erkenntnisse haben aber keineswegs dazu geführt, dass die verschiedenen Vorstellungen darüber, wie das Gehirn uns Denken und Erleben ermöglicht, sich einander annähern würden. Hier stehen sich vielmehr konträre Auffassungen nach wie vor unversöhnlich gegenüber: Wer trifft zum Beispiel Entscheidungen, ist es der Mensch, wie Philosophen konstatieren, oder sind es die Prozesse, die im Gehirn ablaufen, die unseren Entscheidungen zu Grunde liegen?
Die Grenzlinie zwischen den Repräsentanten, die so oder so denken, deckt sich ziemlich genau mit derjenigen zwischen den sogenannten »Zwei Kulturen«. Im Jahre 1956 hatte der Engländer Charles Percy Snow im New Statesmann einen Artikel veröffentlicht, in dem er konstatierte, dass es ein wechselseitiges Nichtverstehen zwischen der Kultur der literarischen Intellektuellen und Philologen einerseits und der Kultur der Naturwissenschaftler und Techniker andererseits gäbe. Und dieses Nichtverstehen wird beim Streit über die Rolle, die das Gehirn für uns Menschen spielt, erneut offensichtlich.
Im Vortrag geht es nicht um das zur Genüge diskutierte Problem des Freien Willens, sondern darum, die Denkungsarten der »Zwei Kulturen« zu charakterisieren. Stimmt es, dass Hirnforscher bei bestimmten ihrer Aussagen einem »mereologischen Trugschluss« erliegen, wie von philosophischer Seite gesagt wird? Begehen sie außerdem Kategorienfehler? Ist es möglich, durch Klärung von Begriffen – eine der Hauptmethoden der Philosophie – zu neuen Erkenntnissen über das Gehirn zu gelangen?
Welche Prozesse im Gehirn bei der Wahrnehmung von Objekten vor sich gehen und wie sie aufgezeigt werden können, wird zunächst dargestellt. Dann wird analysiert, was daraus geschlossen werden kann und was nicht. Dabei wird auch verglichen, worin beim Schachspielen eigentlich der Unterschied besteht zwischen den Prozessen, die im Schachkomputer »Deep Blue« ablaufen, und denjenigen im Gehirn des Schachweltmeisters Kasparow, der 1996 gegen »Deep Blue« verloren hat.
Das Ziel des Vortrags ist nicht, den Zuhörer von der einen oder der anderen Sichtweise zu überzeugen. Vielmehr sollen die beiden Denkmethoden soweit klar gemacht werden, dass jeder sich selbst ein begründetes Urteil bilden kann.
In der Schlussbetrachtung wird diskutiert, warum der Streit um das Gehirn häufig so emotional geführt wird. Es liegt vermutlich daran, dass die Thematik unser Menschenbild tangiert, und damit zum Teil auch religiös festgelegte Vorstellungen. Diese mit rationalen Argumenten zu ändern ist aber erfahrungsgemäß häufig nicht möglich. Eine Einigung in der Frage, welche Rolle das Gehirn für uns Menschen spielt, ist deshalb in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten.