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Das Janus­gesicht der Religion
Zur Evolution von Religionen und den evolutio­nären Chancen eines auf­geklärten Humanismus

Vortrag von Prof. Dr. Gerhard Schurz

In diesem Vortrag widme ich mich zwei Fragen:

(1) Wie kann es aus naturalistisch-evolutionärer Sicht erklärt werden, dass religiöse Glaubenssysteme in der menschlichen Ideen- und Kulturgeschichte nachhaltig selektiert wurden, bis hinein in gegenwärtig hochtechnologisierte Gesellschaften, obwohl ihre deskriptiven wie moralischen Glaubensinhalte durch den Fortschritt von Aufklärung und Wissenschaft immer wieder widerlegt worden sind, und obwohl sich die mit ihnen verbundenen fundamentalistischen Gefahren religiös motivierter Kriege immer wider historisch erwiesen haben?

(2) Wenn es − und dazu führt die Antwort auf Frage 1 − nicht nur Gefahren, sondern auch starke positive Gründe für das Festhalten von Menschen an religiösen Glaubenssystemen gibt, die durch Aufklärung nicht aus der Welt geschafft werden können, so fragt sich, wie ein alternatives humanistisches Weltbild aussehen kann, das nicht auf Religion aufbaut, aber dennoch die positiven Funktionen von Religion bis zu einem gewissen Grad erfüllen kann.

Zur Frage (1) stelle ich Erklärungsansätze zur evolutionären Selektion von Religionen im Rahmen einer Theorie der kulturellen Evolution vor. Ich vereinheitliche diese Ansätze in meinem Begriff des verallgemeinerten Placebo-Effektes, demzufolge gewisse Glaubenssysteme positive Effekte für die glaubende Person oder Gruppe besitzen, welche unabhängig vom Wahrheitswert des Glaubensinhaltes allein durch den Glauben zustande kommen. Ich argumentiere für die These, dass es für religiöse Glaubenssysteme einerseits multiple evolutionäre Entstehungsgründe (soziale Bedeutung des Todes, intuitive mentale Psychologie, Kind-Eltern-Beziehung), sowie multiple selektive Beibehaltungsgründe gibt (psychologische Ichstärkung, soziale Identitätsstiftung), sodass selbst dann, wenn es kein »Gen« für religiöse Dispositionen existiert, die Wahrscheinlichkeit der spontanen Entstehung von religiösen Glaubenssystemen menschlichen Gesellschaften sehr hoch ist.

Betreffend Frage (2) weise ich zunächst auf die großen Gefahren des mit religiösen Glaubenssystemen verbundenen Fundamentalismus hin. Ich definiere den Begriff »Fundamentalismus« und versuche, eine klare Abgrenzung gegenüber aufgeklärt-wissenschaftlichen Glaubenssystemen zu geben. Eine solche Abgrenzung sollte unter anderem auch dazu geeignet sein soll, kreationistische Forderungen nach schulischem Pflichtunterricht von religiöser Schöpfungslehre neben darwinistischer Evolutionslehre klar zurückzuweisen. Daran anschließend diskutiere ich die Frage, wie eine humanistisches Weltbild religiöse Dispositionen indirekt verankern kann, ohne einen Gott als individuelle Entität oder gar epistemisch und/oder moralische Autorität anzunehmen, wobei ich pantheistische Religiositätsvorstellungen (etwa bei Giordano Bruno) mit Demuts- und Erhabenheitsgefühlen in Bezug auf die Evolution des Kosmos in Beziehung setze.

*Veranstaltungen (1996–2015) im Rahmen des »Turm der Sinne« sind vor Gründung von Kortizes abgehalten worden; jedoch mit maßgeblicher Arbeit des heutigen Kortizes-Teams. Die Auflistung hier erfolgt nur aus archivtechnischen Gründen.